Menschenbilder
Bilder von Menschen sind für mich wie die Außenaufnahme eines Hauses, während geschriebenen Briefe oder Mails eher so sind, als würde ich gleich mitten in den inneren Räumlichkeiten eingeladen sein. Auch Profiltexte sagen mir etwas über das Innere eines Menschen aus (sofern es denn selbstgeschrieben ist). Deswegen sind mir Profilbilder vielleicht auch nicht so wichtig, während mir schon die ersten Mails eine ganze Menge über den Menschen aussagen. Früher hatte ich sogar eher das Problem, daß mich diese Fassadenbilder gestört hatten. Aber irgendwann habe ich dann gemerkt, daß man auf einigen Bildern manchmal auch einen Blick durch die Fenster erhaschen kann. Das sagt auch immer viel aus.
Von Prominenten guck ich deswegen auch immer gern Bilder. Vor allem, weil man hier ja auch oftmals eine ganze Fülle bekommen kann. Und selbst die Meister der Fassaden lassen mitunter einen Blick ins Innere zu. Tiefer Schmerz, gelebtes Leiden, Unsicherheit, Zweifel, Liebe, Hingabe. Menschlich, berührbar. Gar nicht mehr so glatt und perfekt.
Aber Meister der Fassaden findet man nicht nur unter den Prominenten. Fassaden scheinen ja heute
so unglaublich wichtig zu sein. Wichtiger als die Frage, ob ich oder der andere Freude am Leben
hat.
Einige perfektionieren sie sogar bis zur Undurchdringlichkeit. Das geht. Je nach Talent - und
zumindest eine zeitlang.
Er zum Beispiel: Eine Fassade. Perfekt, glatt, wie aus Metall. Mit verspiegeltem Glas. Bei ihm hatte
ich immer so das Gefühl, als hätte ich einen Unsichtbaren vor mir. Und um etwas von seinen
inneren Regungen und Bewegungen mitbekommen zu wollen, müßte ich die Blätter um ihn herum
beobachten. Wie ein Unsichtbarer, der sich durch einen Blätterwald bewegt.
Seine Wohnung war immer tiptop, sauber und aufgeräumt und geschmackvoll eingerichtet - und ich
hatte immer das Gefühl, an jedem Möbelstück haftet ein unsichtbarer Zettel "Bitte nicht anfassen".
Bitte nicht anfassen, unantastbar. Bloß nichts kaputtmachen. Und bloß nichts verrücken.
Stil(l)leben.
Oder der Chatter mit seinen 1500 Mails pro Tag. Die Fassade war recht gewöhnlich, mit einem sympathisch verwilderten Blumenbeet davor - und im Garten standen die Diplome, Zertifikate, Statussymbole und Anerkennungen. Aber ein Gespräch zu führen, war fast unmöglich. Es ging nur Chat. Nur oberflächlicher Smalltalk. Bei ihm hatte ich immer das Gefühl, sein Inneres ist wie eine zusammengepreßte Lunge. Komisches Bild, nich. So als wären die Räume alle zusammengepreßt und könnten sich aber jederzeit ausdehnen und ihre eigentliche entspannte Form annehmen.
Und dann gibt es einige, deren Fassade ist fast schon unscheinbar. Ein Haus eben. Nichts besonderes. Wenn man auf den Hof kommt, meint man erst, keiner wäre da - und dann kommt jemand durch das Tor vom Garten, strahlt und sagt "Mensch, Du bist das! Komm doch rein!" und man geht durch das Tor und kommt in einen großen Garten mit blühenden Blumen, Obstbäumen, Gemüse, einen Komposthaufen mit Brennesseln und die Kürbispflanzen wachsen schon über die Wege hinaus.
"Ist das nicht interessant? Jeder ist irgendwie anders!" meinte mein Chef letztens, als der Kunde
raus war und erzählt mir von den Eigenarten seiner Kunden.
"Was meinst Du, hatte der jetzt für einen Beruf? Der hatte den gleichen, wie der vorletzte Kunde gerade."
"Hmm, nunja, irgendwie haben die einen gleichen Klang ... Sie bewegen sich viel ... auch
draußen ... aber keine Gärtner... reden tun sie auch ... und irgendwie sowas dunkles haben die in sich
..."
"Jaaa, ... Und?"
"Hmm, weiß nicht ..."
"Pfarrer!" meint er und lacht.
Da wäre ich allerdings jetzt wohl nicht drauf gekommen ...
Geschrieben unter den Namen Shemena